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Das Baltikum ( Kurland , Livland , Estland , Litauen )
und die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk 1917/18

Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte von Lettland , Estland und Litauen

III. Das Baltikum und die Friedensverhandlungen (22. Dezember 1917 - 10. Februar 1918)

1. Die Anfangsphase

          Bereits  während der ersten Plenarsitzung der Friedensverhandlungen am 22. Dezember 1917 unter- breitete die sowjetische Seite ihre Friedensvorschläge. Sie bezog sich dabei auf die Prinzipien des Friedens- dekrets, welche sie “als einzige Grundlage” für einen “demokratischen”, für alle annehmbaren Frieden bezeichnete. Hiervon ausgehend, schlug sie vor, den Friedensverhandlungen 6 Punkte zu Grunde zu legen. Gemäß Punkt 1 sollten keine gewaltsamen Aneignungen von im Krieg besetzten Gebieten gestattet sein und die Besatzungstruppen aus ihnen “in kürzester Frist” abgezogen werden. In Punkt 3 wurde vorgeschlagen, den vor dem Krieg unselbständigen nationalen Gruppen, also auch den Letten und Litauern, die Möglichkeit zu geben, durch Referendum über ihre staatliche Selbständigkeit frei zu entscheiden. 

          In ihrer Antwort vom 25. Dezember 1917 erklärten die Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien, Türkei), daß “die Leitsätze des russischen Vorschlages eine diskutable Grundlage für einen solchen (allgemeinen, gerechten) Frieden bilden können”. Mit einem sofortigen allgemeinen Frieden ohne gewaltsame Gebietserwerbungen und ohne Kontributionen seien sie einverstanden unter der Bedingung, daß alle ihre Kriegsgegner sich innerhalb einer angemessenen Frist in gleicher Weise verpflichteten.

          Im zweiten Teil ihrer Antwort nehmen die Vierbundmächte - und zwar lediglich in Form von rechtlich unverbindlicheren Bemerkungen - zu den einzelnen Punkten des sowjetischen Vorschlages Stellung. Sie teilten darin zu Punkt 1 mit, daß eine gewaltsame Aneignung von im Krieg besetzten Gebieten nicht in ihrer Absicht läge und über die Besatzungstruppen im Friedensvertrag zu bestimmen wäre. Zu Punkt 3 erklärten die Mittel- mächte, daß die Frage der staatlichen Zugehörigkeit unselbständiger nationaler Gruppen nicht zwischenstaat- lich geregelt werden könne, sondern von jedem Staate selbst mit seinen Völkern zu lösen sei.

          Abgesehen davon, daß die Antwort der Mittelmächte am 25. Dezember nur in Form von rechtlich kaum verbindlichen Bemerkungen erfolgte, bedeutete sie auch inhaltlich keine einschränkende Festlegung der deutschen Politik in der baltischen Frage, denn eine unmittelbare Annexion der baltischen Länder war ohnehin nicht vorgesehen. Stattdessen sollten Kurland und Litauen als “selbständige” Staatswesen von Rußland los- gelöst und alsdann vertraglich möglichst eng an Deutschland angeschlossen werden. Die Reichsregierung berief sich darauf, daß Rußland seinen Völkern einseitig das Selbstbestimmungsrecht zugestanden hatte und von den Vertretungen Kurlands und Litauens bereits über die Selbständigkeit entschieden worden war.

          In seinem Telegramm vom 26. Dezember 1917 an den Reichskanzler betonte der deutsche Delega- tionsleiter von Kühlmann, Deutschland und seine Verbündeten hätten nur auf eine gewaltsame Aneignung “besetzter” Gebiete verzichtet. Hingegen habe man nicht auf solche Gebiete verzichtet, deren “Aneignung      oder vertragsmäßige Angliederung ... auf Grund des unter unserem (deutschem) Einfluß sich vollziehenden Selbstbestimmungsrecht der Länder erfolgt.”

          Diese Interpretation Kühlmanns zeigt, wie die deutsche Seite sich auch in der Erklärung der Mittel- mächte vom 25. Dezember die Möglichkeit offenhielt, ihre expansiven Ziele im Baltikum mit Hilfe eines manipulierten “Selbstbestimmungsrechts der Länder” weiterzuverfolgen.

          Am 25. Dezember 1917 wurde eine Unterbrechung der Verhandlungen bis zum 4. Januar 1918 vereinbart, um dem Westmächten Gelegenheit zu geben, sich zu dem allgemeinen Friedensangebot der Mittelmächte vom 25. Dezember zu äußern und sich an der Konferenz zu beteiligen. Inzwischen sollten die Verhandlungen über jene Punkte, die speziell zwischen Rußland und den Vierbundmächten zu regeln wären, weitergehen.

       Rußland und Deutschland brachten am 27. Dezember 1917 ihre Auffassungen zum Inhalt des Friedens- vertrages in formulierten Erklärungen zum Ausdruck. Die russische Erklärung enthielt den Vorschlag, daß beide Seiten im Friedensvertrag vereinbaren, die jeweils besetzten Gebiete, also auch Litauen und Kurland, militärisch zu räumen und der dortigen Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, “binnen kürzester genau bestimmter Frist vollkommen frei” über ihre staatliche Zukunft zu entscheiden. Die Frist für die Räumung sollte durch eine besondere Kommission bestimmt werden.

       Die deutsche Gegenerklärung vom gleichen Tage beinhaltete zwar die Bereitschaft, die besetzten Gebiete zu räumen, doch galt das nicht für jene Gebiete, welche - nach Ansicht der Reichsregierung und Heeresleitung - ihre Loslösung von Rußland beschlossen hatten. Damit waren die baltischen Länder ausgenommen. Die russi- sche Regierung solle von den gefaßten Trennungsbeschlüssen aus den besetzten Gebieten Kenntnis nehmen und anerkennen, daß “diese Kundgebungen unter den gegebenen Verhältnissen als Ausdruck des Volkswillens anzusehen sind”. Durch diese Erklärung hatte sich die deutsche Seite weder in der Frage der Räumung der baltischen Gebiete noch in der Art des Volksvotums festgelegt. Sie gestand aber zu, daß die “schon vorlie-genden Lostrennungserklärungen durch ein Volksvotum auf breiter Grundlage, bei der irgendein militärischer Druck in jeder Weise auszuschalten ist”, bekräftigt werden sollen. Hierzu habe eine besondere Kommission Zeitpunkt und Modalitäten noch zu beraten und festzulegen.

       In ihrer zweiten Erklärung vom 27. Dezember erwiderte die sowjetische Delegation, daß nur eine freie Abstimmung bei gänzlicher Abwesenheit fremder Truppen “als tatsächlicher Ausdruck des Volkswillens betrachtet werden kann”. Somit war offenkundig, daß die sowjetische Seite die Loslösungserklärungen aus den besetzten baltischen Gebieten nicht als “Ausdruck des Volkswillens” anerkannte. Sie bestand darauf, daß dieser strittige Punkt klarer und genauer formuliert wird.

       Nachdem man sich geeinigt hatte, eine Sonderkommission zu bilden, die sich mit Einzelfragen der Räu- mung und der Abstimmung in den besetzten baltischen Gebieten befassen sollte, wurden am 28. Dezember 1917 die Friedensverhandlungen bis zum 4. Januar 1918 vertagt.

       Der bisherige Verhandlungsverlauf, insbesondere die Verhandlungsführung durch den Leiter der deutschen Delegation und Vertreter der Reichsregierung, von Kühlmann, wurde von der Heeresleitung mit Mißbilligung und Mißtrauen beobachtet. Noch am Abend des 28. Dezembers 1917 machte Ludendorff den unterschiedlichen Standpunkt zwischen Heeresleitung und Reichsregierung in einem Telegramm an das Auswärtige Amt mit den Worten deutlich: “Ich bedauere ganz außerordentlich, daß wir ... in so weitgehendem Maße den Forderungen der Russen nachgegeben haben. Wir waren dazu nach der Kriegslage in keiner Weise gezwungen  ... Daß wir die besetzten Gebiete, soweit wir sie behalten wollen, nicht räumen können, möchte ich nochmals betonen. Die Erklärungen, durch die Litauen und Kurland ihre Loslösung von Rußland ausge- sprochen haben, sind Erklärungen der allseitig (?) als alleinige Landesvertretung anerkannten Landesräte. Das muß den Russen genügen”  >26< Schließlich wies Ludendorff darauf hin, dass er “es für verhängnisvoll halte, eine Agitation in den besetzten Gebieten für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zuzu- lassen”. Im gleichen Sinne wurde Hindenburg am 31. Dezember 1917 beim Reichskanzler vorstellig. >27<

       So versuchte die Heeresleitung im Hinblick auf die weiteren Friedensverhandlungen ihren ablehnenden Standpunkt, was die Selbstbestimmung der Bevölkerung und die Räumung Kurlands und Litauens anbetraf, durchzusetzen. Wie sich zeigte, waren ihre Bemühungen nicht erfolglos. >28<

                                                                                                                                                 > Weiter

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