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Das Baltikum ( Kurland , Livland , Estland , Litauen )
und die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk 1917/18

Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte von Lettland , Estland und Litauen

III. Das Baltikum und die Friedensverhandlungen (22. Dezember 1917 - 10. Februar 1918)

2. Die Zwischenphase

       Die wichtigsten Verhandlungen über den künftigen Frieden fanden während der zweiten Phase (4.- 20. Januar 1918) auf der Ebene der Sonderkommission statt, deren Bildung am 27. Dezember 1917 vereinbart worden war. In der 1. Kommissionssitzung, am 11. Januar, nannte Trotzki, welcher inzwischen die Leitung der sowjetischen Delegation übernommen hatte, den deutschen Gegenvorschlag vom 27. Dezember 1917 “unbedingt und völlig unannehmbar”.

        Auch die sowjetische Erklärung in der 3. Kommissionssitzung am 12. Januar 1918 sowie die Gegen- erklärung Deutschlands und Österreich-Ungarns in der 4. Kommissionssitzung am 14. Januar 1918 brachten keine Fortschritte. Beide Seiten bekräftigten und präzisierten ihre im Grundsatz schon dargelegten gegenteiligen Auffassungen zu den entscheidenden Verhandlungspunkten, nämlich der Räumung und der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der besetzten Länder. Die Delegationen Deutschlands und Österreich-Ungarns wie- sen darauf hin, daß mit einem Friedensschluß mit Rußland noch nicht ein allgemeiner Frieden erreicht und ein Truppenabzug aus den besetzten Gebieten unmöglich sei, solange der Weltkrieg andauere.

       Strittig war, ob das Selbstbestimmungsrecht, wie in der sowjetischen Erklärung vom 12. Januar behaup- tet wurde, nur Nationen insgesamt und nicht Teilen von ihnen zusteht. Das bezog sich auf die besetzten balti- schen Gebiete, in denen nur ein Teil der Letten ( Kurland , Riga und Umgebung ) sowie der Esten (baltische Inseln) lebten. In ihrer Antwort vom 14. Januar vertraten Deutschland und Österreich-Ungarn die Auffassung, daß auch Teile von Nationen ihre Selbständigkeit und Absonderung rechtmäßig beschließen könnten.

       Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Erklärungen beider Seiten vom 12. und 14. Januar 1918 im Einzelnen vier Punkte - Umfang des Territoriums, politische Voraussetzungen für die Ausübung des Selbst- bestimmungsrechts, Übergangsregime und Form der Willenskundgebung - betrafen, über die Einigkeit nicht erreicht wurde.

       Der während der Friedensverhandlungen zwischen der deutschen und der sowjetischen Seite ohnehin bestehende Gegensatz in der Selbstbestimmungsfrage vertiefte sich noch durch den Beschluß des 3. Allrussi- schen Rätekongresses vom 28. Januar 1918. Der Beschluß besagte: “Die Russische Sozialistische Sowjet- republik wird auf Grund eines freiwilligen Bündnisses der Völker Rußlands als Föderation der Sowjet- republiken dieser Völker geschaffen.” Damit waren allein die Räte und nicht etwa die in den besetzten baltischen Ländern unter deutschem Einfluß gebildeten Vertretungen berechtigt, das Selbstbestimmungsrecht für ihre Völker auszuüben.

       Die Reichsregierung mußte sich in der Räumungs- und Selbstbestimmungsfrage innenpolitisch nicht nur mit der Heeresleitung, sondern auch mit den Reichstagsparteien und -abgeordneten, deren Einfluß infolge der “Parlamentarisierung” des Regierungssystems während des Jahres 1917 erheblich gewachsen war, auseinan- dersetzen. Hierbei spielte der Zentrumsabgeordnete Erzberger eine zentrale Rolle. >29<

        Erzberger stellte am 18. Januar 1918 ein 7-Punkte-Programm für die Politik in den besetzten Ost- gebieten auf. >30< Danach sollten die während der Besatzungszeit errichteten “Volksvertretungen”, also die Landesräte Kurlands und Litauens, “in kürzester Frist” feststellen, ob sie in ihrer gegenwärtigen Form nach Einbeziehung sämtlicher Parteien der “tatsächliche Ausdruck des Volkswillens” sind. Diese vorläufigen  Volksvertretungen müßten jeweils über das politische Schicksal ihres Landes entscheiden und “schnellstens ... eine auf demokratischer Grundlage gebildete konstituierende Nationalversammlung” vorbereiten.

       Das von Erzberger vorgeschlagene Verfahren war ein Kompromiß gegenüber der nach Meinung der Zentrumspartei zu weitgehenden sozialdemokratischen Resolution vom 6. Januar 1918. >31< In ihrer Reso- lution hatte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion gefordert, daß “die letzte Entscheidung” über die politische Zukunft der besetzten Gebiete den “verfassungsgebenden, aus allgemeinen gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorgehenden Landesversammlungen oder Volksabstimmungen überlassen werden (muß)”. >32<

       Erzberger schlug außerdem vor, daß die militärische Räumung der besetzten Gebiete innerhalb von
3 Monaten nach Demobilisierung der russischen Armee erfolgen solle. Um diesbezüglichen Einwendungen,
die vor allem seitens der Heeresleitung zu erwarten waren
>33<,  zu entkräften, erläuterte Erzberger seine Vorschläge am 18. Januar 1918 in einer Besprechung der Mehrheitsparteien mit der Reichsregierung. >34< Erzberger meinte, daß durch die Vorschläge keine Gefahr für Deutschland zu befürchten sei, da Kurland und Litauen Militärkonventionen mit Deutschland abschließen wollen. Die vorgeschlagene Lösung würde, was Kurland und Litauen anbetrifft, alle berechtigten Wünsche Deutschlands und Rußlands erfüllen. Jedoch schon am nächsten Tag teilte der deutsche Delegationsleiter bei den Friedensverhandlungen, von Kühlmann, telegra- phisch mit, daß Erzbergers Vorschläge “scheinbar sachlich unbrauchbar” wären. Man sei “in Konzessionen bis an die äußerste Grenze dessen gegangen, was nach Forderung OHL (Oberste Heeresleitung) noch vertretbar war”. >35<                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           > Weiter

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