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Das Baltikum ( Kurland , Livland , Estland , Litauen )
und die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk 1917/18

Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte von Lettland , Estland und Litauen

II.  Das Baltikum und die Vorbereitungen zu den Friedensverhandlungen (8.11.-21.12.1917)

 Kurland und Litauen zwischen Annexion und Selbständigkeit

          Am 8. November 1917, unmittelbar nach der bolschewistischen Machtergreifung, nahm der Zweite Allrussische Rätekongreß das von Lenin verkündete “Dekret über den Frieden” an. In ihm wurde “allen    kriegführenden Völkern und Regierungen” vorgeschlagen, unverzüglich Verhandlungen für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen aufzunehmen. Als “Annexion” verstand das Dekret jede Angliederung eines kleinen oder schwachen Volkes an einen großen oder mächtigen Staat, sofern dieses Volk ihr nicht ausdrück- lich und freiwillig zugestimmt hat. Von unmittelbarer Bedeutung war, daß die auf dem Kongreß als “Rat der Volkskommissare” konstituierte Regierung in dem Dekret alle kriegführenden Länder aufforderte, sofort einen Waffenstillstand von wenigstens drei Monaten zu schließen, um innerhalb dieser Zeit Friedensverhandlungen beenden zu können.

          Durch das Friedensdekret und den Erlaß der Volkskommissare vom 15. November 1917, der das Selbstbestimmungsrecht für die Völker Rußlands “bis zur vollständigen Trennung und Bildung selbständiger Staaten” beinhaltete, gewann für die deutsche Regierung die Frage des Selbstbestimmungsrechtes der balti- schen Völker zusätzliche Aktualität. Hierzu gab Reichskanzler Graf von Hertling im Reichstag am 29. Novem- ber 1917 eine Grundsatzerklärung ab, in der es unter anderem hieß: “Was die ehemals dem Zepter des Zaren unterworfenen Länder Polen, Kurland, Litauen betrifft, so achten wir das Selbstbestimmungsrecht ihrer Völker. Wir erwarten, daß sie sich selbst diejenige staatliche Gestalt geben werden, die ihren Verhältnissen        und der Richtung ihrer Kultur entspricht.”

          Im Zusammenhang mit dieser für die Reichsregierung bindenden Festlegung in der Selbstbestimmungs- frage teilte der Reichskanzler mit, daß der Rat der Volkskommissare durch einen Funkspruch am 28. Novem- ber 1917 vorgeschlagen habe, Verhandlungen über einen Waffenstillstand und einen allgemeinen Frieden zu einem nahen Termin aufzunehmen. Er, der Reichskanzler, sei dazu bereit.

          Die Verhandlungen, welche zwischen dem 3. und 15. Dezember 1917 in Brest-Litowsk stattfanden, endeten mit dem Abschluß eines vierwöchigen Waffenstillstandes ( > Bild ).

          Hinsichtlich der nun bevorstehenden Friedensverhandlungen erklärte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, von Kühlmann, daß dann Deutschland “an erster Stelle das Ausscheiden Kurlands und Litauens aus Rußland” fordern würde. >17<

          Die Reichsregierung wollte im Friedensvertrag nicht die Angliederung der baltischen Länder, sondern nur ihre Loslösung aus dem russischen Staatsverband regeln. Da eine unmittelbare Annexion nicht in Betracht kam, ergab sich für die deutsche Seite die Notwendigkeit, in Kurland und Litauen politische Gebilde mit einer gewissen Selbständigkeit entstehen zu lassen, die als Staatspersönlichkeiten in den Friedensverhandlungen anerkannt werden. Außerdem mußten schon wegen der Erklärung des Reichskanzlers vom 29. November 1917 zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und den diesbezüglichen sowjetischen Forderungen die Bevöl- kerung beider Länder auch selbst ihre Loslösung von Rußland und die staatliche Unabhängigkeit verlangen. Andererseits konnte jedoch die Reichsregierung, um die Möglichkeit für einen späteren Anschluß an Deutsch- land offenzuhalten, den Völkern Litauens und Kurlands keine vollständige Selbständigkeit zugestehen. Hier- durch mußte die deutsche Argumentation in der Selbstbestimmungsfrage von vornherein widersprüchlich erscheinen.

          Die Litauer hatten sich bemüht, in Deutschland selbst Hilfe für ihre Unabhängigkeitsbestrebungen zu erhalten. So trugen am 1. Dezember 1917 Mitglieder des litauischen Landesrates dem Reichskanzler ihre Wünsche vor. Sie bezogen sich hierbei auf die erwähnte Resolution der allitauischen Konferenz vom September 1917 zur Unabhängigkeit Litauens. Der Reichskanzler erwiderte, die Litauer könnten sich darauf verlassen, daß der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechtes der Völker auf sie Anwendung finden werde. >18<

            Bereits wenige Tage danach, am 6. Dezember 1917, wurde auf einer Sitzung im Reichskanzlerpalais deutlich, daß in der litauischen Frage erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen der politischen und militärischen Führung bestanden. Feldmarschall von Hindenburg betonte, daß Litauen zur Sicherung der deutschen Grenzen nötig sei und fest an Deutschland gekettet sein müsse. Litauen und Kurland dürften keine  selbständigen Staaten, sondern sollten in Personalunion mit Preußen verbunden sein. “Die Wünsche der Litauer gehen zu weit.” Hingegen wies Staatssekretär von Kühlmann darauf hin, daß die Frage der Personal- union staatsrechtlich schwierig sei. “Wir sind augenblicklich nicht mehr in der Lage, eine Alternative-Politik zu treiben. Wir müssen jetzt nach der Taktik `Selbstbestimmungsrecht´ verfahren.” >19<

          In einer weiteren Besprechung zwischen der Reichsregierung und der Heeresleitung am 6./7. Dezember 1917 in Berlin wurde entschieden, daß der litauische Landesrat zu einer Unabhängigkeitserklärung verbunden mit einer Bündnisverpflichtung an Deutschland bewegt werden soll. >20< Die Reichsregierung benötigte eine solche Erklärung, um sie Rußland während der Friedensverhandlungen entgegenhalten zu können. Hinsichtlich Kurlands meinte die Regierung in Übereinstimmung mit der Heeresleitung, daß mit der Adresse des erweiter- ten kurländischen Landtages vom 21. September 1917 bereits eine ausreichende Loslösungserklärung vorläge. Obwohl dieser Landtag, wie oben dargelegt, nicht die Bevölkerungsmehrheit Kurlands repräsentierte, blieb die deutsche Führung bei ihrer Auffassung, daß sich Kurland durch die Landtagserklärung bereits für seine Trennung von Rußland entschieden habe.

          Zwar war auch der litauische Landesrat nicht aus allgemeinen unmittelbaren Wahlen hervorgegangen, doch hatte er eine breitere Grundlage in der Bevölkerung als der von Kurland, zumal er auch von den im Ausland lebenden Litauern anerkannt wurde. >13< Insofern konnte der Unabhängigkeitserklärung, die er am 11. Dezember 1917 im Sinne der Reichsregierung unter deutschem Druck abgab, größeres politisches Gewicht beigemessen werden. Darin proklamierte der litauische Landesrat die “Wiederherstellung eines unabhängigen litauischen Staates ... und seine Abtrennung von allen staatlichen Verbindungen, die mit anderen Völkern (also mit Rußland) bestanden haben”.   Außerdem “bat” er um “den Schutz und die Hilfe des Deutschen Reiches” und trat “für ein ewiges, festes Bündnisverhältnis” Litauens mit Deutschland ein, welches durch militärische und wirtschaftliche Verträge verwirklicht werden sollte. >21<  Es ist bezeichnend, daß sich Deutschland zwar auf diese Erklärung in den Friedensverhandlungen berufen sollte, aber ihre Veröffentlichung in Litauen selbst untersagte. >22<

          Da zu erwarten war, daß Rußland während der Friedensverhandlungen die Räumung der besetzten baltischen Gebiete verlangen würde, mußte man sich auf deutscher Seite mit dieser Frage auseinandersetzen. Die Reichsregierung hielt es hierbei für politisch zweckmäßig, die bestehende Militärverwaltung durch eine Zivilregierung abzulösen und mit dem Aufbau einer einheimischen Landesverwaltung zu beginnen. Die Militär- verwaltung war anderer Ansicht. In einer Besprechung am 7. Dezember 1917 im Reichskanzlerpalais >23< meinte General Ludendorff, daß die Militärverwaltung “auf Jahre hinaus” bestehen bleiben müsse. General Hoffmann, Chef des Generalstabes beim Oberbefehlshaber Ost, bemerkte dazu: “Die Leute dort können sich nicht selbst regieren. Zivilregierung kann erst nach 10-15-20 Jahren eintreten.”

          Zur weiteren Vorbereitung der Friedensverhandlungen fand am 18. Dezember 1917 im Großen Hauptquartier eine Konferenz mit dem Kaiser statt, an welcher die führenden Vertreter der Reichsregierung (Hertling, Kühlmann) und der Heeresleitung (Hindenburg, Ludendorff) teilnahmen. >24< Hierbei warnte die Reichsregierung im Hinblick auf das künftige Verhältnis zu Rußland, die deutsche Interessensphäre auf Livland und Estland auszudehnen. >25< Dagegen betonte Hindenburg die Notwendigkeit der militärischen Sicherung der Ostgrenze und befürwortete eine Personalunion von Estland und Livland einschließlich Rigas und der baltischen Inseln mit Deutschland. Der Kaiser entschied, “man solle den Russen die Räumung (Livlands und Estlands) vorschlagen, ohne sie zu fordern, damit die Livländer und Esten ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben können.” Hinsichtlich Litauens und Kurlands erklärte sich der Reichskanzler mit einer Personalunion einver- standen, sofern die Bundesfürsten ihr zustimmen. Damit bezog er sich auf Vorstellungen der Heeresleitung, die sich seit etwa Mitte 1917 für einen sehr engen Anschluß beider Länder durch Personalunion unter der preußischen Krone aussprach. Der Kaiser meinte dazu, daß er einen eigenen Herrscher für diese Länder nicht für möglich hielte. Es sei notwendig, so hob er hervor, “die fremdstämmigen Länder `mit langem Zügel´ zu regieren und ihre Eigenart sich entwickeln zu lassen.”

                                                                                                                       > Friedensverhandlungen

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