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Das Baltikum ( Kurland , Livland , Estland , Litauen )
und die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk 1917/18

Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte von Lettland , Estland und Litauen

III. Das Baltikum und die Friedensverhandlungen (22. Dezember 1917 - 10. Februar 1918)

3. Die Endphase

       Auch in den Friedensgesprächen zwischen dem 30. Januar und 3. Februar 1918 konnte kein Durch- bruch erzielt werden. Währenddessen gerieten die Friedensverhandlungen unter großen Zeitdruck. Die deutsche Delegation kam immer mehr zu der Überzeugung, daß die sowjetische Seite die Gespräche absichtlich verzögerte, um den Verhandlungszustand für ihre Zwecke länger zu nutzen. Vor allem die Heeresleitung drängte schon im Hinblick auf die militärische Lage an der Westfront auf eine Entscheidung. Außerdem forderte sie mit Nachdruck, daß Livland und Estland von russischen Truppen geräumt werden und kündigte militärische Operationen an, um die dort lebenden Deutschbalten zu schützen.

        Im nichtbesetzten Livland und Estland entwickelten sich die politischen Verhältnisse so, daß sie der Heeresleitung die Begründung für ein militärisches Eingreifen erleichterten. Mit der Oktoberrevolution hatten auch dort die bolschewistisch beherrschten Räte die Macht übernommen, ohne daß das lettische und est- nische Bürgertum nennenswerten Widerstand leistete. Lettisch-bürgerlichen Gruppen gelang es trotz des Widerspruchs der Bolschewisten, in Walk / Livland vom 17. bis zum 19. November 1917 eine konstituierende Sitzung des lettischen Nationalrates stattfinden zu lassen.

       Der Nationalrat, welcher aus Vertretern zahlreicher bürgerlicher Organisationen bestand, wandte sich in einer Deklaration an die auswärtigen Mächte. Unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker protestierte er in der Deklaration gegen jede Teilung Lettlands, vor allem durch eine Angliederung Kurlands an Deutschland, und erklärte ganz Lettland, also einschließlich Lettgallens, für autonom. Von der sowjetischen Regierung forderte er eine plebiszitäre Entscheidung über die innere Ordnung des Landes. Die Sowjetregierung lehnte das ab und zwang den Nationalrat in die Illegalität. Kurz danach, Ende Dezember 1917, wurde auf dem 2. Kongreß der Vereinigten Räte Lettlands offiziell die Räteherrschaft proklamiert.

       In Estland verlangten bürgerliche Kreise seit der Oktoberrevolution nicht mehr lediglich Autonomie, sondern Loslösung von Rußland und volle Unabhängigkeit. Als der im Frühsommer 1917 frei gewählte, bürgerlich ausgerichtete estnische Landtag (Maapäev) am 28. November 1917 in Reval zu einer Sitzung zusammentrat, wurde er vom Arbeiter- und Soldatenrat auseinandergetrieben. Er konnte sich aber noch unmittelbar vorher zum Träger der höchsten Gewalt in Estland erklären und seinem Präsidium und Ältestenrat weitgehende Vollmachten für ein selbständiges Handeln erteilen. Entsprechend seinen Vollmachten entsandte der Ältestenrat Vertreter in das Ausland, um für die Anerkennung eines unabhängigen Estlands zu werben und einer möglichen Angliederung an Deutschland entgegenzuwirken.

       Wie vorher schon in Lettland begannen nun auch in Estland die Bolschewisten nach russischem Vorbild verstärkt gegen “Klassenfeinde” vorzugehen. Besonders wurde hiervon der deutschbaltische Adel betroffen. Dieser versuchte im Geheimen eine Fortsetzung des deutschen Vormarsches zu erreichen. Dazu sammelte er Unterschriften und richtete dringende Hilferufe an Deutschland. >36<

       Am 28. Januar 1918 erklärten die Ritterschaften Livlands und Estlands dem sowjetischen Geschäfts- träger in Stockholm gegenüber die Selbständigkeit ihrer Länder und teilten ihm mit, daß sie beschlossen hätten, um den Schutz des Deutschen Reiches zu bitten. >37< In ihrer Erklärung beriefen sie sich auf ihr altes, von Peter dem Großen bestätigtes Recht, “im Namen des ganzen Landes staatsrechtliche Verträge zu schließen” und auf den “allgemeinen Volkswillen” der von ihnen vertretenen Länder.

       Wie nicht anders zu erwarten, wurde die Stockholmer Erklärung von sowjetischer Seite nicht anerkannt, weil die Ritterschaften “überlebte” Institutionen seien und man “nur direkte Äußerungen von auf breitester Basis fußenden Körperschaften beachten könne”. >38<

       Für die Bolschewisten waren die Erklärung und das Drängen der Ritterschaften auf einen baldigen deutschen Vormarsch Anlaß zu scharfen Gegenmaßnahmen. Führende Deutschbalten und auch einige Esten wurden verhaftet und nach Rußland deportiert. Kennzeichnend für die Situation war die vom Vollzugskomitee des estnischen Arbeiter- und Soldatenrats am 10. Februar 1918 unterzeichnete Proklamation, welche “alle Personen, die zum ehemaligen baltischen Adelsstande gehören und deren Männer das Alter von 17 Jahren, deren Frauen das Alter von 20 Jahren erreicht haben, außerhalb des Gesetzes" stehend erklärte, “mit Ausnahme der stillenden Frauen und altersschwachen Greise”. <39>

       In der Frage, ob die Räumung Livlands und Estlands von Rußland gefordert werden und Deutschland    in diese Gebiete einmarschieren sollte, bestanden auf deutscher Seite tiefe Meinungsverschiedenheiten. Staatssekretär von Kühlmann und sein Auswärtiges Amt vertraten eine vorsichtig zurückhaltende Politik, welche den unmittelbaren deutschen Machtbereich auf Kurland und Litauen beschränken wollte. Hierdurch geriet das Auswärtige Amt in einen starken Gegensatz zu einflußreichen konservativen deutschbaltischen Politikern, deren Auffassung bei der Heeresleitung und zunehmend beim Kaiser Gehör fand. >40< Kühlmann hingegen berief sich auf die oben erwähnte kaiserliche Instruktion vom 18. Dezember 1917, wonach die Räumung Livlands und Estlands zwar vorzuschlagen, aber nicht zu fordern sei. >41< Hindenburg wandte sich deshalb an den Kaiser mit der Bitte, Kühlmann anzuweisen, nunmehr unverzüglich von den Russen die Räumung Livlands und Estlands zu verlangen oder, falls diese sich weigern, die Verhandlungen abzubrechen. Der Kaiser ließ daraufhin an Kühlmann telegraphieren: “Trotzki gegenüber ist - sofort - das Postulat zu stellen, Friedensschluß auf - meine - Bedingungen unter gleichzeitiger Räumung Livlands und Estlands - sogleich - oder sofortiger Abbruch der Verhandlungen und Kündigung des Waffenstillstandes.”

       Am 9. Februar 1918 legten die Delegationen Deutschlands und Österreich-Ungarns einen Vorschlag für den Friedensvertrag vor, der in Artikel 2 den Verzicht Rußlands auf seine Oberhoheit über Kurland einschließ- lich Rigas und Litauen, nicht jedoch über das unbesetzte Livland und Estland enthielt. Das Schicksal der abgetrennten Gebiete sollte “im Einvernehmen mit ihren Völkern” entschieden werden.

       Die sowjetische Delegation verlangte dagegen in einer Sitzung der Unterkommission am 10. Februar 1918 die Herausgabe von Riga und den baltischen Inseln, weil diese Gebiete für die Verteidigung Rußlands   und seiner Hauptstadt Petrograd (Petersburg) erforderlich seien. Die deutsche Seite lehnte das ab, zumal die besetzten baltischen Inseln und das Gebiet um Riga wichtige Brückenköpfe für die von der Heeresleitung geplanten militärischen Operationen nach Livland und Estland bedeuteten.

       Der deutsche Vertreter wies während der anschließenden Kommissionssitzung darauf hin, daß “die fortgesetzt einlaufenden Meldungen von Gewalttaten schlimmster Art gegen die Bevölkerung Livlands und Estlands” in Deutschland “steigende Sorge , Beunruhigung und Entrüstung” hervorrufen würden. >42<
Er richtete deshalb an Rußland die Mahnung, es solle “ohne Verzug” Livland und Estland räumen.
>43<

       Am 10. Februar 1918 endete der letzte Teil der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk. An diesem Tage teilte Trotzki im Namen des Rates der Volkskommissare mit, daß “Rußland ... darauf verzichtet, einen annexionistischen Vertrag zu unterzeichnen” und den Kriegszustand mit den Mittelmächten für beendet erkläre. Die russischen Truppen würden vollständig an allen Fronten demobilisiert werden.

       Nachdem Trotzki eine für den nächsten Tag vorgeschlagene Plenarsitzung, in welcher die Mittelmächte zu seiner Erklärung Stellung nehmen wollten, abgelehnt hatte, verließ er Brest-Litowsk. Damit waren die eigentlichen Friedensverhandlungen zu Ende. Die späteren Zusammenkünfte der bisherigen Verhandlungs- parteien waren keine “Verhandlungen”. Sie wären nur, wie die sowjetische Seite betonte, die Unterwerfung unter das Diktat der Sieger. Jedoch erscheint es für eine Wertung der Friedensverhandlungen im Hinblick auf das Baltikum sinnvoll, den Brester Friedensvertrag und das politische Geschehen in den baltischen Ländern bis Ende März 1918 wenigstens kurz noch in die Betrachtung zum vorliegenden Thema einzubeziehen.

                                                                                                                                  > Friedensvertrag

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