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Das Baltikum ( Kurland , Livland , Estland , Litauen )
und die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk 1917/18

Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte von Lettland , Estland und Litauen

IV.  Die politische Zukunft des Baltikums 
und das Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker

 

       Die Frage nach der politischen Zukunft des Baltikums hatte zentrale Bedeutung in den Friedensver- handlungen von Brest-Litowsk. Grundlage für die deutsche Verhandlungsführung waren ihre Vorschläge vom 27. Dezember 1917, welche von der 6-Punkte-Gegenerklärung der Mittelmächte vom 25. Dezember 1917   und den sowjetischen Erklärungen zum Selbstbestimmungsrecht ausgingen. Hierbei vertrat der deutsche Staatssekretär von Kühlmann in der baltischen Frage eine durchaus maßvolle Politik. Sie zielte darauf ab, sich hinsichtlich der baltischen Gebiete nur auf Litauen und Kurland zu beschränken und lediglich deren Loslösung von Rußland unter Bezugnahme auf die sowjetischen Äußerungen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker vertraglich bestätigt zu erhalten. Wahrscheinlich konnte Kühlmann nur durch eine solche begrenzte Ziel- setzung, welche ansonsten die Verhältnisse im Baltikum auch nach dem Friedensvertrag in der Schwebe ließ, den einander entgegengesetzten Auffassungen von Heeresleitung und Reichstagsmehrheit Rechnung tragen. So unterschied sich die Baltikumspolitik der Reichsregierung und vor allem ihres Staatssekretärs von Kühlmann deutlich von den weitgehenden Forderungen der Heeresleitung und einflußreicher deutschbaltischer Kreise, welche nachdrücklich auf engsten Anschluß der baltischen Gebiete, und zwar nicht nur von Kurland und Litauen, sondern auch von Livland und Estland, an Deutschland drängten.

       Um das von Rußland seinen Völkern zugestandene Selbstbestimmungsrecht für die Loslösung Litauens und Kurlands in Anspruch zu nehmen, war es notwendig, daß von diesen Ländern entsprechende Unab- hängigkeitserklärungen vorlagen. Die so von Rußland getrennten und “selbständig” gewordenen Staatsgebilde sollten sich dann durch den Abschluß von Konventionen möglichst eng an Deutschland binden. Dem deutschen Plan stand entgegen, daß die sowjetische Seite die unter deutschem Einfluß in Litauen und Kurland gebildeten Institutionen und deren Erklärungen nicht als “tatsächlichen Ausdruck des Volkswillens” anerkannte. Sie be- harrte auf ihrem Standpunkt, daß nach Abzug der Besatzungstruppen die gesamte Bevölkerung, und zwar einschließlich der zurückgekehrten Flüchtlinge, die Möglichkeit erhalten müsse, frei über das politische Schicksal ihres Landes zu entscheiden.

       Die deutsche Seite konnte die sowjetische Bedingung schon aus folgenden Gründen nicht annehmen:

       1. Eine Räumung der besetzten baltischen Gebiete hätte mitten im Weltkrieg ein für Deutschland gefähr- liches Machtvakuum an seiner Ostgrenze geschaffen. Die deutsche Regierung mußte befürchten, daß die bolschewistische Führung diese Situation für ihre expansiven weltrevolutionären Ziele nutzen würde. Wie die Ereignisse 1918 /19 bewiesen, war die deutsche Befürchtung nicht unbegründet.

       2. Die Verhältnisse in Rußland waren noch ungeklärt. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß die westlichen Kriegsgegner dort wieder an Einfluß gewinnen und dann die deutsche Ostgrenze bedrohen würden.

       3. Das Baltikum war für Deutschland angesichts der äußerst angespannten Ernährungslage ein kriegswichtiges landwirtschaftliches Überschußgebiet.

        4. Die lettische Bevölkerungsmehrheit in Kurland hatte überwiegend eine deutschfeindliche Gesinnung, so daß freie allgemeine Wahlen zuungunsten Deutschlands ausgegangen wären. Eine Rückkehr der vielen lettischen Flüchtlinge nach Kurland hätte das Ergebnis noch ungünstiger ausfallen lassen. Staatssekretär von Kühlmann ging davon aus, daß die sowjetische Seite die besetzten, dünn besiedelten baltischen Gebiete mit bolschewistisch beeinflußten Rückkehrern “überschwemmen” und “dann auf die Abstimmung einwirken oder, falls dies nicht gelingt, die Länder gleichfalls revolutionieren” wollte.” >51<

       Deshalb mußte die deutsche Führung die politische Entwicklung in den besetzten baltischen Gebieten unter Kontrolle behalten. Darüber hinaus legte besonders die Heeresleitung größten Wert darauf, daß die Voraussetzungen für eine Angliederung von Kurland und Litauen an Deutschland erhalten blieben.

          So war es aufgrund ihrer Interessenlage und Zielsetzung für die deutsche Seite notwendig, ihre Fiktion aufrechtzuerhalten, daß die unter dem deutschen Okkupationsregime in Kurland und Litauen geschaffenen Landesorgane die rechtmäßigen Vertreter ihrer Gebiete und die von ihnen abgegebenen Loslösungserklärungen von Rußland >52< Ausdruck des Volkswillens seien. Darin lag - ebenso wie in der Tatsache, daß die deutsche Delegation keine festen Räumungstermine in Aussicht stellen konnte - eine Schwäche der deutschen Argumen- tation während der Friedensverhandlungen. Zwar drängte die Reichsregierung darauf, dem von Deutschbalten beherrschten kurländischen Landesrat eine breitere Basis zu geben, doch hätte auch das der lettischen Bevöl- kerungsmehrheit kaum ermöglicht, ihr Selbstbestimmungsrecht umfassend zu verwirklichen. Jedenfalls in seiner bisherigen Zusammensetzung repräsentierte der kurländische Landesrat auch nicht annähernd die Bevölkerung Kurlands.

          Da in Litauen die deutschbaltische Oberschicht fehlte, mußten die Litauer stärker beteiligt werden, so daß der litauische Landesrat von vornherein auf einer breiteren Grundlage als der in Kurland stand. Die von ihm unter deutschem Druck abgegebene Unabhängigkeitserklärung  wurde zwar während der Friedensverhand- lungen von deutscher Seite Rußland entgegengehalten, durfte aber in Litauen selbst nicht veröffentlicht werden. Auch blieben zwei Schreiben des litauischen Landesrats, in welchen er Staatssekretär von Kühlmann und die deutsche Militärverwaltung bat, an den Friedensverhandlungen beteiligt zu werden, unbeantwortet. >53<

          Alles das konnte nicht dazu beitragen, die deutsche Argumentation in der Selbstbestimmungsfrage während der Friedensverhandlungen glaubhafter erscheinen zu lassen. Für die deutsche Politik gegenüber den baltischen Ländern war die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht nach den Worten Staatssekretär von Kühlmann eine “Taktik” >54< oder, wie General Hoffmann am 2. Januar 1918 zum Reichstagsabgeordneten Erzberger sagte, “nur ... Mittel der Loslösung der Völker von Rußland”. >55<

          Kritiker, die deshalb der deutschen Seite vorwerfen, sie hätte sich während der Friedensverhandlungen unaufrichtig verhalten, sollten dabei berücksichtigen, daß ein solcher Vorwurf auch die Gegenpartei treffen würde: Die Bolschewisten traten nur solange uneingeschränkt für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein, wie sie hoffen konnten, dadurch ihren weltrevolutionären Zielen näher zu kommen. Als sich ihre Erwartungen nicht erfüllten und der Separatismus in den Randgebieten Rußlands den Zusammenhalt des sowjetischen Staates gefährdete, forderte der Volkskommissar für Nationalitäten, Stalin, im Januar 1918 auf dem 3. Allrussi- schen Rätekongreß, daß das Selbstbestimmungsrecht nicht auf die Bourgeoisie, sondern auf die “schaffenden Massen einer Nation” anzuwenden sei. Es müsse dem Kampf für den Sozialismus dienen und den sozialisti- schen Prinzipien untergeordnet bleiben. >56< Bereits die bolschewistische Herrschaft in Estland und Livland 1917 / 18 zeigte mit genügender Deutlichkeit, wie diese Auffassung vom “Selbstbestimmungsrecht der kleinen Nationen” zu werten ist.

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